Fünfzehn Meter bis zum Glück. Fünfzehn Meter, die mir unüberwindbar erscheinen. Da ist eine Treppe, aber kein Fahrstuhl. Da ist auch keine Umleitung für mich. Fünfzehn unüberwindbare Meter trennen mich von dem Glück, teilzuhaben am Leben in dieser Gesellschaft. Fünfzehn unüberwindbare Meter - ich sehe sie an, ich bestaune sie, ich verachte sie, ich hasse sie.
Ich bin 17 Jahre jung und habe Kinderlähmung. Ich kann mich selbständig fortbewegen. Alles funktioniert an mir - nur meine Beine versagen. Ich brauche Räder. Ich habe Räder. Es ist ein kleiner, schnuckeliger Rollstuhl - ich bestand darauf, einen solchen zu bekommen. Sportler benutzen diese Art von Fortbewegungsmittel. Bunt ist er auch. Ich bestand darauf. Mein Vater erfüllt mir alle Wünsche. Ich belohne ihn regelmäßig mit einem Einserzeugnis. Das tut gut. In meiner Schulklasse bin ich anerkannt. Auf Klassenreisen tragen die Jungs mich ins Wasser und zurück. Das tut gut. Ich liebe meinen Vater, weil er so ist, wie er ist. Meine Mutter trauert und spricht wenig. Mein Umfeld hadert nicht mehr mit meinem Schicksal. Ich bestand darauf. Das tägliche traurige Gesicht meiner Mutter reicht mir. Mein Vater schickt mich ins Leben hinaus. Er streichelt mir über meinen Kopf und erinnert mich daran, dass ich Kinder bekommen kann. Mein Vater verbietet mir, das Wort Krüppel auch nur zu denken! Er besteht darauf! Das tut gut. Nun sitze ich meinem coolen Rollstuhl vor diesen unüberwindbaren fünfzehn Metern TREPPE und mir kommen ganz andere Gedanken. Ich knabbere an meiner Brezel und sehe mich älter werden. Ich frage mich, ob mich je ein Mann lieben und heiraten wird? Schließlich muss er mich nicht nur über die Schwelle tragen, sondern durch das ganze Leben! Ich frage mich, ob ein Freitod an meinem 18. Geburtstag vielleicht doch die beste Lösung ist. Ich frage mich, was wichtiger ist: Meine Pein, mein Leid - oder meine Eltern, die wohl an meinem Tod verzweifeln würden? Ich frage mich das nicht mehr - ich weiß die Antwort. Ich bleibe! Ich will das Leben - mein Leben - annehmen und zu einem bunten Spektakel machen.
Ein junger Mann bleibt stehen. Offensichtlich erkennt er meine Bedürfnisse. Er lächelt und ich nicke mit dem Kopf. Ich höre Papa in mir: NIMM HILFE AN! Oke, dann mach ich das!Der junge Mann pfeift kurz und winkt. Sie sehen aus wie Zwillinge mit ihrem Punkerhaarschnitt in ihrem Partnerlook. Sie reiben sich die Hände und wortlos packen sie an. Ich schwebe. Ich fliege. Ich lache. Die beiden Jungs verneigen sich und entschwinden. Ich knabbere meine Brezel weiter und halte Ausschau nach einem Eiscafé. Es tut gut, auf einem normalen Stuhl zu sitzen. Es macht Spaß, mein Eis zu löffeln. Doch dies alles tue ich meist allein. Ich sende meinem Vater ein Selfie und bekomme sofort eine Antwort: ICH BIN STOLZ AUF DICH! Ich bin allein. Meine ganze Kraft geht dabei drauf, meiner Umwelt zu zeigen, dass ich stark bin. Ich bin stark, doch mir fehlt mein echtes Leben. Ohne meine Beine bin ich auf Räder angewiesen. Eine Träne bestätigt mein wahres Gefühl vom Leben. Ich lasse die Träne kullern. Hinter meiner Sonnenbrille sieht niemand meine wahre Befindlichkeit. Ich weiß, dass ich eingesperrt bin. Ich fasse einen Plan: Ich will herausfinden, was Kinderlähmung wirklich ist! Ich will herausfinden, was man dagegen tun kann! Ich will gesund werden! Ich werde studieren! Jetzt weiß ich, was ich tun werde. Mein Leben bekommt in diesem Augenblick einen Sinn! Ich bestelle mir noch einen Eisbecher mit extra Sahne und notiere in mein Smartphone: Als ERSTES Professor Berger kontaktieren! ER weiß so viel und wird mir sicher helfen! Es wird gelingen! Ich will endlich tanzen! Spektakel eingeschaltet! Leben 2.0 - Yeahh! Kuschelrock in meinem Kopf ...